Aus Neugier gekommen, im Herzen verwurzelt

Der Ostschweizer Oliver Kühn, Bühnendarsteller, Autor und Spielleiter, findet im Puschlav mit seinem ad hoc-Ensemble nicht nur einen vertrauten Ruhepol. Hier sprudelt stets auch Inspiration für sein Schaffen – mit dem Tal und für das Tal. Mit „Fenice.Poschiavo“ entsteht das inzwischen vierte Stück mit direktem Bezug zu Land und Leuten.


Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit dem Puschlav?

Das war etwa 2000. Ich kam ins Tal, weil ich oft davon gehört hatte, aber nicht wusste, wo es ist. Die theatrale Kulisse inmitten der Berge hatte es mir dann sehr angetan.

Was verbindet Sie mit der Region als Mensch?

Sie ist Teil der Geschichte vom Theater Jetzt und somit auch meiner. Wir haben hier schon mehrmals Theater gemacht. Gehe ich durch das Dorf, habe ich meine Orte, kenne einen Teil der Leute. Und sie kennen mich. Ich bleibe zwar der Zucchino, wie die Südschweizer uns Deutschschweizer nennen. Aussen grün, innen langweilig. Aber so langweilig kann es nicht sein, man spricht meist mit mir. Oft freundlich.

Und was als Theatermacher?

Das Tal und seine Menschen haben eine eigene Geschichte. Dazu die abgeschiedene Lage. Ich fahre nach Poschiavo 5 Stunden Zug und tauche ein in eine andere Welt. Weil: Ist man hier, kann man nicht einfach wieder weg. Das behagt mir. Die Ablenkung ist klein, man kann nicht anders als in Ruhe arbeiten. In diesem Sinne: Geschichte haben und in Ruhe Geschichte erzählen - das hat was.

 

Viele Kunstschaffende zieht es in die Zentren, Sie zieht es ins kleine Tal. Was fasziniert am lokalen Theater?

Man nimmt Kultur in Zentren stärker wahr, weil sie sich mehr behaupten muss, greller ist. Von dort zieht es eine bestimmte Klientel aber auch zurück, weil dieses Grelle nicht immer behagt oder weil sie Ergänzung suchen. Das Kulturpublikum ist sehr mobil und neugierig und das Theater Jetzt führt das Publikum manchmal in Gegenden, wo es vorher nicht war. Wir spielen im Puschlav vor Einheimischen, Publikum aus dem Veltlin, Touristen, manchmal "prominenten" Leuten, die Ferien machen und uns zu Hause nie gucken würden. Kultur, Tourismus, Gastronomie und Kurzausflüge sind eine formidable Verbindung.

Haben Sie selbst Erinnerungen an die Überschwemmung von 1987?

Ich erinnere mich an einen Bericht in der Schweizer Illustrierten. Die dramatisch schwarzweissen Bilder von kaputten Häusern. Das blieb.

Zu jedem Stück recherchieren Sie intensiv. Wie haben Sie in all dem Material Zugang gefunden?

Ich finde es erstaunlich, dass es neben einer "offiziellen" Version auch eine "nicht offizielle" gibt. Es gibt noch Generationen, die das miterlebt haben. Ich habe Kontakt zu Leuten im Pensionsalter, die die Dinge sehr real erzählen können. Wenn auch die Katastrophe lange zurückliegt, haben sie nichts vergessen und können aus der Distanz entspannter berichten. Teilweise ist da auch noch ein gewisser Groll, weil nicht alle Versäumnisse thematisiert wurden.

Worum geht es im Kern: Um Verarbeiten oder Erinnern?

Wir richten einen aufhellenden Blick auf die Katastrophe. Dokumentieren die Flutwelle, schaffen aber mit 5 Zeitreisenden gewisse Anachronismen und schauen nach Pararallelen zum Heute. Damals war alles ohne Handy und Internet viel komplizierter. Trotzdem ähneln die Ereignisse etwa denen vom Sommer 2021 im deutschen Ahrtal. Menschen werden überrascht, nehmen Warnungen nicht Ernst. Man meidet schwierige Aufgaben oder nutzt Katastrophen politisch aus. Nach einer Katastrophe gibt es zwei Richtungen: Entweder daran verzweifeln oder vorwärts denken. Resilienz und Trost sind zwei wichtige Themen in diesem Stück. 

Wie verwandelt sich das Stück in eine hochaktuelle Botschaft?

Uns interessiert das Vorwärtsdenken. Wir sind müde von Pandemien, Kriegskonflikten oder Klimadebatten. "Fenice.Poschiavo" heisst so, weil die Leute die Schaufel in die Hand genommen und den Müll weggeräumt haben. Daraus entstand, auch dank vielem Geld, wieder der Ortskern, wie man ihn heute kennt. Das bietet Symbolgehalt und auch Trost. Kaspar Howald vom Turismo Poschiavo hat einmal gesagt, dass "Katastrophe" im griechischen Originalsinn der Moment der Umkehr ist. Darum geht's.

Was nehmen Sie Unerwartetes oder Überraschendes aus diesem Projekt mit?

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Resilienz hat mir gerade während der Pandemie auch persönlich gut getan. 

Vervollständigen Sie den Satz: Wenn Krisen eine Chance sind ...

dann die, das man gezwungen wird, neue Wege zu gehen.

Text: Bettina Schnerr | Bild: Regina Jäger 
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