Alles ausser Spielzeug

Im Bahnmuseum Albula in Bergün/Bravuogn steht ein Modell der Albulastrecke der Rhätischen Bahn. Erbaut hat sie ein Mann mit Leidenschaft, der beruflich gar nichts mit Zügen zu tun hat.


Grün – ein mattes Grün ist es, nicht ganz dunkel, auch nicht ganz hell, eher in der Mitte des Farbspektrums angesiedelt. Und genau dort, in der Mitte, fährt ihm dieses Grün ein. Bernhard Tarnutzer schaut auf die Farbe, die sich da auf ihn zubewegt, wie sie langsam bergaufrollt. Die Farbe bedeckt eine Lokomotive. Es ist die Ge 4/4II  611 «Landquart». Sie zieht einen kurzen Güterzug und rollt an Tarnutzer vorbei, der sich kurz ans Herz fasst, ihr nachschaut, bis die Lok an der nächsten Biegung verschwindet. Er dreht sich um, muss sich kurz sammeln und räuspern: «C’est ma passion», sagt er und fügt etwas verlegen hinzu: «Un amour fou.» 

Der Nostalgiker

Bernhard Tarnutzer hat lange Jahre seines Lebens in der Westschweiz verbracht, Französisch nennt er die Sprache seines Herzens. Er hat im Tourismus gearbeitet, in der Eventbranche, und lebt nun, als Rentner, im Engadin. Seine 77 Jahre sind ihm kaum anzusehen, so agil wie er sich bewegt, erzählt und versucht begreiflich zu machen, warum eine grün lackierte Lokomotive ihm so ans Herz geht, ihm derart einfährt: «Sie erinnert mich an früher. Damals war die Rhätische Bahn noch nicht durchgehend eine ‹kleine Rote›. Kommen Sie!»

Tarnutzer verlässt den Perron des Bahnhofs von Bergün/Bravuogn. Nur wenige Schritte sind es zum Bahnmuseum Albula und gleich links hinter dem Kassaschalter beginnt Tarnutzers Reich: eine Modelllandschaft mit Trassen und Tunnels, mit Brücken und Felsen, mit Kühen, Menschen auf Velos und in Sportcoupés, mit Häusern und Brunnen, Bäumen, Bächen – und vor allem: mit der Bahn.

Analoge Leidenschaft und digitale Technik

Hier oben, auf 1371 Metern, hat Tarnutzer seiner geliebten Rhätischen Bahn ein Denkmal gesetzt. In jahrzehntelanger akribischer Arbeit baute er originalgetreu im Massstab 1:45 (Spur 0 m) die grosse Bündner Schmalspurbahn en miniature nach. Auf Holzpodesten entstand eine Gebirgslandschaft mit Gängen für den Erbauer und Besuchende des Bahnmuseums.

Ab 15.00 Uhr fahren seine Züge, täglich ausser Montag, gesteuert mittels Smartphone, denn in der analogen Minibahn steckt heute eine voll digitale Technik. Hier öffnet sich ein Waggonschuppen, dort geht es eine Kehre hoch, es rattert und pfeift, Bremsen quietschen, Passagiere un-
terhalten sich – nein, Stopp am Perron, die Unterhaltung kam von Familie Grazia aus Poschiavo. Sie darf heute den Regionalzug starten und den Güterzug anhalten. Bernhard Tarnutzer gibt dazu gern das Smartphone ab, «ich baue lieber, als dass ich fahre». Ein Spielzeug sei das hier alles sicher nicht, sondern eine Leidenschaft, ein Elixier zur Entspannung und Erholung, eine übersichtliche Welt fernab vom Chaos der Zeitläufte. Es ist dies zugleich eine Konserve seiner Jugend. Ein Abbild der 1940er bis 1980er Jahre, als die Lokomotiven noch grün waren, crèmegrün. Moderne rote Flügelzüge gehörten nicht dorthin.

Vom Wohnzimmer zum Bahnmuseum

Vor 35 Jahren begann er mit der Bahnkonstruktion, dazumal noch da-
heim, im Wohnzimmer. Noch in der Westschweiz war das. Immer an der Wand entlang wurde gebaut; kam er an eine Zimmerecke, musste dort eine Kurve her für die Geleise. Nicht irgendeine freilich, sondern stets eine präzises Abbild der alpinen Natur, der Bündner Landschaft, der UNESCO-Welterbestrecke am Albulapass. Weil die Leidenschaft anhielt, weil die Bahnlinie wuchs, wurden das Wohnzimmer, das Haus irgendwann zu klein. Dann bot sich die Gelegenheit zum Umzug ins Bahnmuseum, wo sich links hinter einer grossen Kehre der Werkplatz versteckt, denn Tarnutzer ist ja noch lange nicht fertig mit seiner Modellbahn, wenngleich die Hauptarbeit inzwischen der Unterhalt des Bestehenden ist – ganz ähnlich wie beim grossen Vorbild.

Wie viele Arbeitsstunden in seinem Lebenswerk stecken, wie viel Material – Messing für die Züge; Moos für die Umgebung – er verarbeitet hat, darüber gebe es keine Statistik. «Es ist eben meine passion. In der Liebe zählt man auch nicht die Stunden – voilà!»

Herausforderungen und Glücksmomente

Liebe zum Detail – das ist so ein abgegriffener Ausdruck, wenn es um Miniaturwelten geht, und die Frage, was oder wer sonst noch Platz im Leben findet, wenn der Modellbau doch eine solche Herzensangelegenheit ist: «Katzen habe ich gehabt. Deshalb hat es auch auf jedem Bahnhof eine. Für einen Hund hätte ich keine Zeit.»

Smilestones in Schaffhausen oder Swissminiatur bei Lugano besucht er übrigens nicht. Dort sei ihm alles zu viel und überhaupt habe er in seinem Leben genug von der Welt gesehen in all den Jahren als Reiseleiter. Das alles brauche er nicht mehr.

Neben dem Ehrenamt im Museum strukturiert der morgendliche Sport Tarnutzers Tag. Der 77-Jährige fährt Ski, spielt Golf und besucht immer wieder Abschnitte der Rhätischen Bahn: Geht hin, fotografiert, misst ab, rechnet um in seinen gewählten Massstab 1:45, plant die Umsetzung, die Reduktion, sieht das Ergebnis vor dem inneren Auge. Schwer mit Worten zu erklären sei das alles, im Laufe der Zeit sei es wie in ihm gewachsen, eine Verbindung, eine langjährige Beziehung, die ihn immer wieder vor Herausforderungen stelle und immer wieder auch Glücksmomente beschere, wenn ein Projekt für seine kleine Welt gelungen sei. Wenn dann die Leute kommen, so wie heute der pensionierte Lokomotivführer, und das Werk bewundern, ihm Respekt zollen, dann zeigt sich Freude im Gesicht von Bernhard Tarnutzer.

Grün – Farbe des Herzens

Eine Besuchergruppe tritt herein, ein Grossrat ist darunter, schmunzelnd erinnert er sich an seine Kindheit und will sich später vielleicht auch einmal in der Modellbahnwelt engagieren, «wenn meine Frau mich lässt». Die Gruppe stellt sich als Stiftung heraus, die aus roten Lokomotiven wieder grüne machen möchte. Nicht um die Zeit aufzuhalten oder zurückzukehren. Sondern um ein Stück Bahngeschichte lebendig zu erhalten, im Original. Die Gruppe nimmt Bernhard Tarnutzer mit hinaus in die Sonne vor dem Museum. Nun stehen sie gemeinsam am Perron und betrachten die Ge 4/4II, wie sie da heranrollt, sich nähert, wie sie einfährt – crèmegrün und direkt ins Herz.

 
Text: Imke Marg
Bild: Mayk Wendt

Dies ist nur eine von vielen spannenden Geschichten,
welche Sie im neuen Piz N°63 lesen können.

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