Ein Bergtal erlebt einen künstlerischen Aufbruch

Die Liebe zum Tal und zur Kunst liessen den Churer Galeristen Luciano Fasciati und seine Frau Marlene im Jahr 2010 im Bergell erstmals eine Ausstellung von zeitgenössischer Kunst realisieren. Daraus wurde eine lange und bewegte Geschichte.


Als Luciano und Marlene Fasciati im Bergell ihren ersten Kunstevent planten, fand man in der Deutschschweiz: «Ihr seid verrückt.» Man konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand für zeitgenössische Kunst in dieses Bergtal reisen würde. Der Churer Galerist und seine Frau liessen sich davon nicht beirren. Und siehe da: Im Jahr 2010 wurde, inspiriert vom Kunstparcours Arte Bregaglia 2008, das Hotel Bregaglia in Promontogno mit Werken von Judith Albert, Evelina Cajacob, Jules Spinatsch und anderen sowie einem umfangreichen Begleitprogramm zum Ort der Kunst – und die «Arte Hotel Bregaglia» zum Erfolg. «Es kamen Besuchende, die seit ihrer Jugend nicht mehr im Bergell waren, oder solche, die noch nie im Tal waren», erzählt Luciano Fasciati. Der Erfolg beflügelte. Luciano und Marlene Fasciati beschlossen, den Kunstevent im darauffolgenden Jahr mit bestehenden und neuen Werken zu wiederholen. Im Jahr 2012 entstand eine Interessengemeinschaft, daraus der Verein «Progetti d’arte in Val Bregaglia». Ein Vorstand, dabei auch Marlene Fasciati als Mitglied, begleitete von nun an die Projekte. Luciano Fasciati blieb als Kurator. «Das Erfolgsrezept war die Qualität der Arbeiten», blickt Luciano Fasciati zurück, «90 Prozent der Werke hatten einen Bezug zum Ort.» 

Ein abenteuerliches Projekt

Auf vier aufeinanderfolgende Ausstellungen im Hotel Bregaglia von 2010 bis 2013 folgte als Weiterentwicklung der Palazzo Castelmur in Coltura als neuer Ausstellungsort. «Ein schwieriges Haus», erinnert sich Luciano Fasciati. «Wir entschieden uns gemeinsam mit der Co-Kuratorin Céline Gaillard für Licht und Video als Schwerpunkt.» Entstanden ist die «Video Arte Palazzo Castelmur», die ebenso erfolgreich war wie die vorangegangenen Kunstereignisse im Hotel Bregaglia.

Das grösste und intensivste Projekt kam im Jahr 2017 mit der «Arte Albigna», angeregt von der Hüttenwartin der Capanna da l’Albigna, Annamaria Crameri. «Ich habe erst abgelehnt, aber sie liess nicht locker», erzählt Luciano Fasciati. Der Kurator und sein Team machten also eine Begehung und fanden dann: «Man kann es ja mal versuchen.» Worauf eine zweite Begehung von der Talstation der Seilbahn über die Mauer bis zur SAC-Hütte mit Kunstschaffenden stattfand. Die waren ziemlich überrascht und meinten dann, Kunst an diesem Ort müssten sie sich gewiss erst überlegen. «Für uns war das eine ideale Ausgangslage», erklärt Luciano Fasciati, «denn: würden sie sich entscheiden, musste ihnen auch klar sein, dass ihre Werke an diesem Ort funktionieren mussten.» 13 Kunstschaffende liessen sich auf das Abenteuer «Arte Albigna» ein und präsentierten zwischen 1200 und 2565 Meter über Meer ihre Arbeiten, darunter Roman Signer, Bob Gramsma, Pipilotti Rist und Remo Albert Alig. Bei der Seilbahn standen die Besuchenden Schlange für die Kunstwanderung, die Mitarbeitenden der Bahn schoben Überstunden, um den Andrang zu bewältigen.

Denkwürdige Volksabstimmungen

So was sei eigentlich nicht zu toppen, war die vielfache Meinung danach. Darum ging es Luciano Fasciati und seinem Team aber nicht. Im Jahr darauf bespielte er mit den beiden Co-Kuratorinnen Céline Gaillard und Misia Bernasconi das Dorf Castase-gna. Kunstschaffende wie Zilla Leutenegger, Gabriela Gerber und Lukas Bardill oder der einheimische Künstler Piero Del Bondio beschäftigten sich in der «Arte Castasegna» mit den sozialen, geschichtlichen und politischen Strukturen des Dorflebens. Nach wie vor stand der Verein Progetti d’arte in Val Bregaglia hinter den jeweiligen Kunstereignissen. 

Hinter den Kulissen war die Finanzierung der Projekte eine stetige Herausforderung. Um Mittel sicherzustellen und mehr Planungssicherheit zu erlangen, strebten Verein und Kuratorium eine Leistungsvereinbarung mit der Gemeinde und der erweiterten Trägerschaft an. Zwei denkwürdige Volksabstimmungen in der Gemeinde im Jahr 2019 ebneten schliesslich den finanziellen Weg für die neu gegründete «Biennale Bregaglia».

Architektur und Gärten im Jahr 2024

Nach der «Arte Castasegna» stand im Jahr 2022 ein Wechsel im Vorstand Progetti d’arte in Val Bregaglia an. Nebst anderen zogen sich auch Luciano und Marlene Fasciati zurück. «Die Kunstprojekte waren sehr geprägt von unserer Handschrift. Es war Zeit, in andere Hände zu übergeben.» Noch im selben Jahr kuratierten Bigna Guyer und Anna Vetsch die «Biennale Bregaglia» in Vicosoprano. Dieses Jahr gestaltet sie Misia Bernasconi zum Thema «Architektur und Gärten». Treffende Themen zum Bergell. Das Tal hatte im Jahr 2009 den Schulthess-Gartenpreis und im Jahr 2015 den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes erhalten. Nach einer Ausschreibung entschied eine fünfköpfige Jury aus über 230 Bewerbungen über die zehn teilnehmenden Kunstschaffenden. Als Hauptort wurde nach einem offenen Dialog mit der Bevölkerung Bondo gewählt. Neben Bondo wird das gesamte italienischsprachige Tal über die Schweizer Grenze hinaus miteinbezogen und durch ein interdisziplinäres Begleitprogramm verbunden. Misia Bernasconi freut sich: «Meine Rolle ist es, das Ganze zu orchestrieren, das heisst, alles zu bündeln und in verschiedenen Sprachen zu vermitteln.» Die Arbeit von Luciano und Marlene Fasciati schätzt sie sehr hoch ein: «Die beiden und ihr Team haben durch ihre zehnjährige Arbeit eine solide Basis für die zukünftigen Gegenwartskunstprojekte gelegt.»

Ein Kleinod in Castasegna

Fragt man Luciano Fasciati nach dem Fazit, so ist für ihn klar: «Das Bergell hat einen künstlerischen Aufbruch erlebt. Vom einmaligen Kunstereignis wurde das Projekt zur biennalen Ausstellung und damit zeitgenössische Kunst zum Thema im Tal.» Wobei er betont: «Es waren Kunstschaffende, Assistierende, Mitarbeitende in der Kuration und im Vorstand, Handwerksbetriebe, technische Betriebe und freiwillige Helferinnen und Helfer, die diese Kunstereignisse möglich gemacht haben und noch immer möglich machen.» Und nicht zuletzt ist er dankbar für die ideelle und finanzielle Unterstützung während all der Jahre.

So ganz lässt ihn die Kunst im Bergell aber nicht los. Er kuratiert nun die Sala Viaggiatori in Castasegna, Warteraum der Postbushaltestelle und Architekturjuwel von Bruno Giacometti.

 
Text: Maya Höneisen
Bild: Ralph Feiner

Dies ist nur eine von vielen spannenden Geschichten,
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